Literaturgeschichte Weißensees
Der Pankower Ortsteil Weißensee ist bekannt für seine vielfältige Kulturgeschichte. Aber nicht nur das Weißenseer Filmstudio Lixie-Atelier, in dem so berühmte Filme wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) gedreht wurden oder die Kunsthochschule Weißensee, die seit 1946 den Ortsteil vor allem im Hinblick auf Bildende Kunst und Fotografie prägte, trugen zur Vielfalt künstlerischen Lebens in Weißensee bei, auch die Literaturgeschichte hat ihre Spuren hinterlassen.
Zahlreiche Schriftsteller*innen wählten den Ortsteil als Lebens- und Wirkungsstätte. Der berühmteste ist sicher Bertolt Brecht (1898-1956), der zusammen mit Helene Weigel (1900-1971) zwischen 1949 und 1953 ein geräumiges Haus in der heutigen Berliner Allee 185, direkt am Weißen See, bewohnte. Vergleichbare Popularität dürfte der Autor, Verleger und Dadaist Wieland Herzfelde (1896-1988) in Weißensee erlangt haben, der ab 1974 in einer Wohnung in der Woelckpromenade 5 immerhin 14 Jahre lang wohnte. Herzfelde gab übrigens 1933 Brechts' Gesammelte Werke heraus.
Doch auch weniger prominente Schriftteller*innen wirkten in Weißensee und hinterließen ihre Spuren, etwa Oscar Blumenthal (1852-1917), Wolfdietrich Schnurre (1920-1989), Herbert Behrens-Hangeler (1898-1981) oder Walter Püschel (1927-2005). Das Wissen um die sozialgeschichtlichen Dimensionen des literarischen Weißensees ist immer noch weitestgehend unbekannt. Wer weiß schon, dass der Gründer der Fischer Verlage in Frankfurt am Main Samuel Fischer (1859-1934) auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee bestattet wurde? Wer weiß schon, dass der Dadaist Herbert Behrens-Hangeler als Dozent für Farblehre an der Kunsthochschule Weißensee der Lehrer von Georg Baselitz war?
Das Lesereihenformat »Literatur in Weißensee«, das seit 2013 kontinuierlich in der Brotfabrik stattfindet, knüpft seit der Gründung an die Literaturgeschichte Weißensees bewusst an. Die Tatsache, dass der Ortsteil Wirkungsstätte vieler Schriftsteller*innen der Vergangenheit wie der Gegenwart, und die Brotfabrik vor allem in den 1990er Jahren wichtiger Lesungsort in Ostberlin für Max Goldt, Tanja Dückers oder Wiglaf Droste gewesen ist, war Ausgangspunkt des Versuchs einer Wiederbelebung der literarischen Kultur in Weißensee, und schlug sich nicht zuletzt auch im Namen der Reihe nieder.
Dialogisches Lesungsformat
Zentrale Eigenschaft des »Literatur in Weißensee«-Konzeptes ist das dialogische Lesungsformat. Zu jeder Lesung wird jeweils ein literarischer Gast geladen, mit dem der Schriftsteller Alexander Graeff, der Gastgeber der Lesereihe, in den Dialog via Literatur und über Literatur tritt. Der Dialog findet auf mehreren Ebenen statt: neben dem Gespräch über Literatur, das Schreiben von Lyrik und Prosa sowie verwandter Motive und Themen geht es vorrangig um die Kommunikation der Texte. Auf literarischer Ebene reagiert der Gastgeber der Reihe mit seinen Texten auf die vom literarischen Gast präsentierte Lyrik oder Prosa – und umgekehrt. So entstehen facettenreiche Verbindungen zwischen Motiven, Inhalten, Positionen und literarischer Form. Die Texte kommunizieren miteinander, es werden Beziehungen herausgestellt, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede hervorgehoben. Texte werden nicht einfach beliebig nebeneinander gestellt – ein Format, das ein hinreichend bekanntes Rezeptionsproblem von Lesungen mit mehreren Autor *innen begünstigt. Die Texte prägen die Erinnerung der Zuschauer*innen gerade im Hinblick auf Beziehungen untereinander, wirken dem Gefühl von Beliebigkeit der gelesenen Texte entgegen und bestärken den Eindruck, dass dem Publikum durch die gemeinsame Vorbereitung des Abends seitens Gastgeber und Gast respektvoll begegnet wird. Die Chance einer nachhaltigen Literaturerfahrung ist bei einem dialogischen Format bedeutend höher als bei Lesungskonzepten, bei denen Autor*innen nacheinander gerade die Separierung und die Konkurrenzsituation ihrer vorgestellten Texte markieren.
Thema des Abends
Jede »Literatur in Weißensee«-Lesung besitzt ein Thema des Abends. Die Themen sind meistens aktuelle gesellschaftliche, aber auch persönliche, in der Literaturgeschichte wiederkehrende Motive, z. B. Aufwachsen, Fremde, Reisen, Ängste, Räume.
Die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass das ungezwungene Autor*innengespräch neben dem Vorlesen der Texte breite Zugänge seitens des Publikums zur Literatur ermöglicht. Vereinzelte Anekdoten aus dem Leben der Autor*innen in Kombination mit ihrer Lyrik und Prosa begünstigen eine gleichsam unterhaltsame wie inspirierende Lesung, die soziale Fragen nicht ausklammert. Durch das Konzept stehen weder Texte noch Dialogpartner*innen nicht bloß nebeneinander, sondern sind eingebettet in bestimmte literarische und soziale Kontexte. Nicht nur spürt das Publikum diese Bezugnahme der Texte aufeinander und die fruchtbare Vorarbeit der beiden Dialogpartner*innen, auch der Literaturdiskurs unter den lesenden Autor*innen und dem Publikum wird mit dem Format angeregt.
Die literarischen Gäste
Die literarischen Gäste der Lesungen werden allein durch den Gastgeber der Reihe ausgewählt. Es werden Autor*innen eingeladen, die mit ihrer Lyrik oder Prosa einen das schreibende Ich übersteigenden, kulturellen Beitrag leisten, der gleichfalls Genre- und Marktsegmentgrenzen zu überschreiten sucht. Besagte Gäste verstehen es, Literatur, Zeit und Ort im Kontext ihres aktuellen Lebens zu betrachten und dies in poetischer Sprache auszudrücken.
»Literatur in Weißensee« versteht sich konsequent als eine Lesereihe in, aus und für Weißensee. Die Anbindung an den Ortsteil ist – seit 2013 – eminenter Bestandteil des Konzeptes.